Gründerzeit

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Prunkvolles Leipziger Gründerzeitensemble von Arwed Roßbach aus dem Jahre 1892

Prunkvolles Leipziger Gründerzeitensemble von Arwed Roßbach aus dem Jahre 1892

Als Gründerzeit wird die wirtschaftliche Phase in Deutschland und Österreich im 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg bezeichnet. In der Architektur spricht man auch vom Gründerzeitstil, der viele in dieser Zeit gebaute bürgerliche Wohnhäuser und Mietskasernen prägt, aber auch die verschiedenen Stilrichtungen des Historismus jener Zeit.

Inhaltsverzeichnis

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Gründerzeit in Deutschland [Bearbeiten]

In Deutschland wird als Gründerzeit die Epoche nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/1871 bezeichnet. Der einsetzende Aufschwung durch das Geld aus den französischen Reparationen (5 Mrd. Goldfranken) wurde genutzt, um den Vorsprung der anderen europäischen Nationen auf dem Gebiet der Industrialisierung aufzuholen.

Der Beginn der Gründerzeit ist recht klar definiert mit dem wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Deutsch-Französischen Krieg. Das Ende dagegen ist eher fließend. Ein entscheidendes Ereignis war der Gründerkrach, bei dem die Aktienkurse wie Seifenblasen platzten und viele Kleinanleger ihre Ersparnisse verloren. Dem Krach folgte die Gründerkrise, die in wirtschaftspolitischer Hinsicht die Abkehr vom Wirtschaftsliberalismus mit sich brachte.

Wirtschaft [Bearbeiten]

Gründerjahre [Bearbeiten]

Als „Gründerjahre“ bezeichnet man die Zeitspanne von der Gründung des deutschen Kaiserreichs bis zum Beginn der Wirtschaftskrise (Gründerkrise), also vom Januar 1871 bis zur Mitte des Jahres 1873.

Die Zeit ist geprägt durch zahlreiche Gründungen von Firmen und Aktiengesellschaften, die starke Erweiterung der Industrieproduktion und die Ausdehnung des Eisenbahnnetzes, welche im Deutschen Reich maßgeblich durch den Eisenbahnpionier Bethel Henry Strousberg betrieben wurde. Dieses Wachstum wurde durch mehrere Faktoren hervorgerufen und begünstigt.

Ein Faktor war der gegen Frankreich gewonnene Krieg (1870/71), der sich in mehrerlei Hinsichten auswirkte. Zunächst flossen durch den Frieden von Frankfurt französische Reparationszahlungen in Höhe von etwa fünf Milliarden Francs (entspricht etwa 4,5 Mrd. Mark) nach Deutschland, von denen etwa 2,5 bis 3 Mrd. Francs direkt dem deutschen Kapitalmarkt (Kreditinstitute und Börsenplätze) zugutekamen. Weiterhin war während des Krieges ein großer Teil der Industrieproduktion auf den Krieg ausgerichtet gewesen, sodass nun längst Überfälliges realisiert werden konnte. Der Aufschwung glich also lediglich die Reduzierung der Industrieproduktion in den vorherigen Jahren aus.

Ein weiterer Grund für das wirtschaftliche Wachstum war, dass in Deutschland 1870 die Konzessionspflicht für Aktiengesellschaften aufgehoben wurde; das heißt, die Gründung von Aktiengesellschaften unterlagen weniger strengen gesetzlichen Einschränkungen. Zum Beispiel konnte eine Aktiengesellschaft mit nur 50% des Nennwertes ausgestattet werden. Die Folge war die Gründung von über 500 Aktiengesellschaften von 1871 bis 1873 allein in Preußen. Dadurch wurde immer mehr privates Kapital in die Wirtschaft investiert. Die Wirtschaft wuchs rasant; ebenso stiegen die Kurse der Aktien. Das schaffte Vertrauen in den Markt und veranlasste weitere Aktionäre zu Aktienkäufen.

Gründerkrach von 1873 [Bearbeiten]

Die Folge des rasanten wirtschaftlichen Auftstieges war, dass sich die Lager füllten und ein gnadenloser Konkurrenzkampf entbrannte, der wiederum die Gewinne sinken ließ. Somit sanken allmählich ab Mai 1873 auch die Aktienkurse.

Als Mitte des Jahres 1873 ein Bankhaus in Budapest Einzahlungsforderungen nachkommen musste, wurden auch schon kurze Zeit später weitere Banken in Wien zahlungsunfähig. Durch diese Ereignisse wurden immer mehr Anleger und Bankkunden misstrauisch, verkauften ihre Wertpapiere und „räumten ihre Konten“ aus Angst vor Wertverlusten. Dadurch wurde dem Kapitalmarkt viel Geld entzogen, wodurch sich die Krise auf immer mehr europäische und amerikanische Börsenplätze ausweitete, bis im Oktober 1873 auch Berlin betroffen war. Zur gleichen Zeit wurde an Deutschland die letzte Kontributionszahlung transferiert.

Für die deutsche Industrie fielen also für die Geldbeschaffung gleich zwei Möglichkeiten weg. Für eine Erhöhung der Produktivität, die im Vergleich zu England geringer ausfiel, wäre aber Geld dringend nötig gewesen. So waren aus England importierte Industriewaren um etwa 30% günstiger als deutsche.

Offenbarungseide, Selbstmorde und Familientragödien häuften sich. Die Produktion ging zurück, es kam zu umfangreichen Entlassungen und Lohnkürzungen. Die Wirtschaft steckte fortan in einer Krise. Viele Menschen wanderten in die USA aus.

Ursachen der Gründerkrise [Bearbeiten]

Im Zuge der nationalen Begeisterung investierte das Kapital bevorzugt in den inländischen Markt. Es etablierten sich insgesamt 61 neue Banken an der Börse. Die Börse wurde zu diesem Zeitpunkt zum Schauplatz zügelloser Spekulationen, wobei die erheblichen Wertsteigerungen zusätzlich die Spekulationslust steigerten. Dies führte dazu, dass schon bald die Grundsätze seriöser Finanzierung außer Acht gelassen wurden und auch Kredite langfristig vergeben wurden, die de facto durch kurzfristiges Kapital finanziert wurden und in Folge dessen nicht mehr gedeckt waren. Allgemein herrschte oft die nahezu naive Denkweise vor, die Banken könnten immer mehr Kapital zu Verfügung stellen.

Der Börsencrash in Deutschland [Bearbeiten]

Ausgelöst durch die Zahlungsunfähigkeit eines Berliner Bankhauses, leitet sich im Oktober 1873 auch in Deutschland ein weitgreifender Zusammenbruch von Börsen-, Aktien- und Spekulationsunternehmen ein. Dieser als "Gründerkrach" bezeichnete Einbruch war hauptsächlich ein Banken- und Kreditzusammenbruch. Er zeigte nach einer Phase der überhitzten Konjunktur, nach einer Zeit des fortwährend wirtschaftlichen Aufschwungs, vor allem auch psychologische Auswirkungen, da das naive Vertrauen in einen grenzenlosen wirtschaftlichen Aufschwung gebrochen war.

Man kann bei dieser Wirtschaftskrise eigentlich nicht von einer Depression, sondern nur von einer Stagnation sprechen, da in dieser Zeit nur die in den vorhergehenden Jahren überhöhten Wachstumsraten ausgeglichen wurden.

Folgen der Gründerkrise [Bearbeiten]

Die Gründerkrise hatte zur Folge, dass der Staat wieder mehr in die Wirtschaftsabläufe eingriff und sich somit vom Wirtschaftsliberalismus verabschiedete. Konkret bedeutete dies die Abkehr von der Idee des Freihandels. Es war auch gleichzeitig der Beginn des Neomerkantilismus und Bismarcks Schutzzollpolitik, der Staat sollte also, im Gegensatz zum Wirtschaftsliberalismus, wieder bedingt in die Wirtschaftssteuerung eingreifen.

So führte man Schutzzölle auf ausländische Importe ein, um den deutschen Markt zu schützen. Im Deutschen Reich wurde das Preisniveau künstlich über dem des Weltmarktniveaus gehalten. Diese Zölle wurden sowohl auf Rohstoffe und Fertigwaren als auch auf landwirtschaftliche Erzeugnisse erhoben.

Tatsächlich erhöhten sich dadurch die Preise für Industriewaren, die langanhaltende Aufwärtsbewegung blieb jedoch aus. Die während der Gründerjahre geschaffenen Überkapazitäten existierten schließlich immer noch und konnten auch jetzt noch nicht im Ausland abgesetzt werden, da viele andere europäische Staaten ebenfalls zu protektionistischen Maßnahmen griffen.

Der verlorene Glaube an die liberale Wirtschaftspolitik drückte sich auch dadurch aus, dass die Nationalliberale Partei 1871 mit 125 Sitzen im deutschen Reichstag etwa 31% der Plätze besetzte, 1881 aber mit 47 Sitzen nur noch einen Anteil von etwa 12% hatte.

Die von der Krise betroffenen Wirtschaftsbereiche ergänzten die staatlichen Maßnahmen durch eigene Kartelle und ähnliche Zusammenschlüsse wurden gegründet, um wettbewerbsbehindernde Absprachen zu treffen, die vor einem weiteren Preisverfall schützen sollten. Preise von Produkten, Produktionszahlen und Absatzgebiete wurden unter den Firmen ausgehandelt.

Es schlossen sich Interessenverbände zusammen, um Forderungen gegenüber der Regierung durchzusetzen. Arbeitgeberverbände wurden gegründet; auf der anderen Seite entstanden immer mehr Gewerkschaften.

Folgen der neuen gesetzlichen Bestimmungen [Bearbeiten]

Aufgrund der Einfuhrzölle stiegen die Lebenshaltungskosten in der Folgezeit an; besonders Lebensmittel und Industriewaren wurden teurer. Bevor die Importzölle auf Getreide erhoben worden waren, war es erheblich günstiger aus dem Ausland zu importieren. Durch die steigenden Zölle wurde dies zunehmend reduziert, so dass die Preise für Brot und andere Getreideprodukte um die Jahrhundertwende bei etwa 130 % des Weltmarktniveaus lagen, jedoch eine Vollbeschäftigung in der Landwirtschaft erreicht wurde.

Zwar sanken auch im deutschen Kaiserreich die Preise für Industriewaren. Allerdings fielen die Preissenkungen auf dem Weltmarkt wesentlich höher aus, so dass man relativ zum Weltmarktniveau von einer Preissteigerung sprechen kann. Nichtsdestoweniger wurde für Industriewaren 1886 im Vergleich zu 1871 etwa 80 % mehr ausgegeben. Dies hing damit zusammen, dass solche Güter immer häufiger konsumiert wurden und die Bevölkerung trotz der Auswanderungswelle gewachsen war.

Gemessen an der Wertschöpfung in Industrie und Handwerk, dem Kapitalstock und dem gesamtwirtschaftlichen Wachstum entwickelte sich die Wirtschaft ab 1879/80 also positiv.

Gründerzeit in Österreich [Bearbeiten]

Wiener Stadtbahnstation Karlsplatz von Otto Wagner 1898.

Wiener Stadtbahnstation Karlsplatz von Otto Wagner 1898.

In Österreich beginnt die Gründerzeit, etwas früher als in Deutschland, um 1850 mit dem Beginn der Industrialisierung des Raums Wien, der Sudetenländer, der Obersteiermark und Vorarlbergs und der Anbindung der Kronländer durch Eisenbahnen (erste Dampflokstrecke 1837), und endet mit dem Wertewandel im Ersten Weltkrieg und dem Ende des Absolutismus der Habsburger.

Wien, die Haupt- und Residenzstadt von Kaiser Franz Joseph, wird ab 1850 – nach der gescheiterten Märzrevolution von 1848 – durch die Eingemeindung der Vorstädte bzw. den Zuzug Hunderttausender, besonders aus Böhmen und Mähren, zur viertgrößten Millionenstadt der Welt. Die Ringstraße wird an Stelle der alten Stadtmauer gebaut, Wohnbau und -spekulation blühen, und das durch die gestiegene Bedeutung von Gewerbe und Handwerk wohlhabend und, gegenüber dem eher agrarwirtschaftlich abhängigen Adel und der mittellosen Arbeiterschaft, mächtig gewordene Bürgertum setzt sich mit Prachtbauten des Historismus und später des Jugendstils Denkmäler. Im kleineren Umfang wurden auch in Graz ganze neue Stadtteile errichtet wobei im Gegensatz zu Wien die Grazer Altstadt grösstenteils erhalten blieb da die rege Bautätigkeit vorallem ausserhalb davon stattfand.

Einen ersten Höhepunkt der optimistischen Hochblüte des Liberalismus in der Österreich-Ungarischen K.u.k.-Monarchie stellte die Zeit von 1867 bis zum Börsenkrach 1873 dar. Nach den Konjunkturtiefs um 1880 und 1890 begann um 1895 durch die revolutionären Entwicklungen des Maschinenbaus, der chemischen Industrie und der Elektrotechnik eine Epoche der Hochkonjunktur und der kulturellen Blüte, die allerdings durch die steigenden nationalstaatlichen Separationsbestrebungen der vielen Völker der Habsburgermonarchie und dem Herannahen des Ersten Weltkriegs einem Gefühl der Degeneration, Dekadenz und einem diffusen Weltschmerz des Fin de siècle bzw. der Belle Epoque wich. Gerade dieses Lebensgefühl prägte in der Wissenschaft die Wiener Schulen, in der Architektur die Wiener Secession und die Wiener Werkstätte und im Verlauf die Wiener Moderne. Der erotische Roman Josefine Mutzenbacher und die Werke Arthur Schnitzlers oder Karl Kraus' beschreiben hautnah das gesellschaftliche Geschehen.

Kunsthistorisches Museum Wien

Kunsthistorisches Museum Wien

Es entstanden neue soziale Probleme durch die starke Wohnungsnachfrage und die Proletarisierung der vom Land oder den Provinzen der Monarchie zugezogenen ehemaligen Knechte und Mägde, die in den entstandenen Mietskasernen zu hohen Mietpreisen, bestenfalls auf Zimmer und Küche mit Wasser und Toilette am Gang, schlechtestenfalls mit 10 Personen in einer Kleinstwohnung, in armseligen Verhältnissen lebten. Dazu kam, dass der Habsburger Staat seine Aufrüstungsprogramme vor allem über Verbrauchersteuern finanzierte und auch deshalb die Inflation enorm stieg. Selbst kleine Beamte waren nicht mehr in der Lage, ihren Lebensunterhalt mit Hilfe ihres Gehaltes zu bestreiten. Oft reichte das Geld aber auch nur für eine Unterkunft als Bettgänger der sein Lager nur zu bestimmten Zeiten benutzen durfte. Teuerungsproteste hielten bis zum Kriegsausbruch 1914 an und führten im Herbst 1911 zu Massenkrawallen.

Junge Mädchen verdingten sich typischerweise als Dienstmädchen oder Wäscherin bei Klein- oder Großbürgern, Männer als Fabrikarbeiter oder Tagelöhner. Wer Glück hatte, schaffte den Aufstieg zu Bahn, Post oder ins Beamtentum des "Wasserkopf Wien" und konnte sich vielleicht sogar eine Sommerfrische im Wienerwald leisten.

Architektur [Bearbeiten]

Gründerzeitfassade Aachen 1899

Gründerzeitfassade Aachen 1899

Noch heute gibt es in vielen deutschen Städten eine große Zahl von Wohnbauten aus der Gründerzeit, die oftmals ganze Straßenzüge oder gar Stadtviertel umfassen. Sie sind ab 1870 in Anbetracht der rasch wachsenden Bevölkerung und dem Zuzug der Landbevölkerung in die städtischen und industriellen Ballungszentren entstanden. Als Ende des Gründerzeitstils muss der Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 bzw. der Werteumbruch am Ende der Kaiserzeit 1918 gesehen werden.

Typisch für den Baustil, der sogenannten Gründerzeitarchitektur, ist die meist von privaten Wohnungsbaugesellschaften errichtete etwa vier- bis sechsgeschossige Blockrandbebauung mit ihren reich dekorierten Fassaden, deren Einzelformen den einzelnen Neostilbewegungen des 19. Jahrhunderts folgen (Neugotik, Neorenaissance, Deutsche Renaissance, Neobarock). Häufig wird die Gründerzeitarchitektur fälschlicherweise auch als Jugendstil bezeichnet. Im Zuge der mit dem Fortschreiten des Zweiten Weltkrieges häufiger werdenden alliierten Luftangriffe auf deutsches Gebiet wurden vermehrt ganze Stadtzentren in Schutt und Asche gelegt, was vielerorts zu einem nahezu vollständigen Verlust gründerzeitlicher Architektur führte. Vom Krieg (und Zerstörungen der Nachkriegszeit) weitestgehend verschonte, ungewöhnlich geschlossen erhaltene Ensemble finden sich zum Beispiel in Berlin - dort vor allem die "Arbeiterviertel" Prenzlauer Berg, Friedrichshain und große Teile Kreuzbergs, aber auch repräsentative Straßenzüge rund um den Kurfürstendamm), Hamburg, der Bonner Südstadt, die Nordstadt und das Briller Viertel in Wuppertal, Chemnitz (Kaßberg), Görlitz, Fürth, Leipzig (Waldstraßenviertel - das größte im Zusammenhang bebaute Gründerzeitviertel Europas), Dresden, das mit der "Bunten Republik Neustadt" ein großes Gründerzeitviertel aufzuweisen hat, München, wo man vorallem in den Stadtteilen Lehel und Neuhausen-Nymphenburg viele Gründerzeitsbauten findet, die List in Hannover, in Straßburg, das über eine umfangreiche geplante Neustadt aus der Kaiserzeit verfügt, und in Wien. Die Innenstadt von Halle gilt als das größte zusammenhängende Wohngebiet dieser Epoche.

Die Fassaden der gründerzeitlichen Gebäude sollten nicht nur in ihrer Größe und ihrem jeweiligen Reichtum, sondern bei Mehrfamilienhäusern auch in ihrem geschossigen Aufbau die soziale Stellung ihrer Bewohner spiegeln. So etwa wurde die erste Etage bzw. das Hochparterre meist "Bel Etage" genannt und war mit ihren besonders hohen Decken und ihren reichen Stuckverzierungen dem wohlhabenderen Bürgertum vorbehalten. Nach oben wurde die soziale Stellung der Bewohner mit abnehmender Geschosshöhe meist immer geringer. Dabei wurde die oberste Etage mit ihren oft nur noch lukenartig kleinen Fenstern in der Regel von den Dienstboten und anderen Angehörigen der unteren sozialen Schichten bewohnt.

In vielen neu entstandenen Wohnvierteln wurden innerhalb der Blockrandbebauung in Hinterhäusern und Hinterhöfen oftmals zahlreiche weitere Quartiere für die Arbeiter errichtet, häufig auch in räumlicher Nähe zu den Arbeits- und Werkstätten. Die überbelegten Einraumwohnungen der Arbeiterklasse mit ihren oft miserablen und gesundheitsschädigenden unhygienischen Wohnbedingungen wurden von etlichen Reformern seit Ende des 19. Jahrhunderts sehr beklagt. Sie haben unter anderem die Ideen der Gartenstadtbewegung (siehe dazu Ebenezer Howard) und so manches Reformprojekt in Deutschland beflügelt.

Berlin Lichterfelde West

Berlin Lichterfelde West

Eine Besonderheit der Gründerzeitarchitektur sind nach einem Gesamtkonzept angelegte repräsentative Villenkolonien wie etwa die Kolonie Marienthal in Hamburg und die bis heute gut erhaltene und als exemplarisch geltende Villenkolonie Lichterfelde-West im Südwesten Berlins (ab 1860). Die Villenkolonien waren wegen des hohen Personalbedarfs zur Führung der großen Häuser in der Praxis gemischte Wohngebiete. So war das Verhältnis der sog. "einfachen Stände" zu den "Herrschaften" etwa in Lichterfelde-West in Berlin zwei zu eins. Die Villenkolonien nahmen mit ihrer aufgelockerten Bebauung, den großen Gärten und Alleen die Idee der "Gartenstadt" vorweg.

Insbesondere unter dem Schlagwort »Luft, Licht und Sonne« wurden in 20er Jahren in polemisch propagandistischer Absicht die gründerzeitichen Hinterhofwohnbedingungen, insbesondere der Berliner Armenviertel, als Gegenbild verwendet, zur Begründung der nun vielfach zeilenartigen angeordneten Baukörper in dem insgesamt aufgelockerten Siedlungsbau der Neuen Sachlichkeit (zum Beispiel die Siedlung Dammerstock von Walter Gropius und Otto Haeseler oder die Hufeisensiedlung von Bruno Taut).

Die Ablehnung der Gründerzeitarchitektur hat weit über die 20er Jahre hinaus nach dem Zweiten Weltkrieg die Ideen der „modernen“ Architektur zum Städtebau und Wiederaufbau über viele Jahrzehnte hinweg beflügelt und diente den Vertretern des »modernen Städtebaus« noch bis Ende der 60er Jahre als Gegenleitbild zu der Errichtung der Trabantenstädte. In deutschen Großstädten wurden zahlreiche Gründerzeitviertel im Zuge von Totalsanierungen vollkommen abgerissen und durch freistehende Einzelblocks oder Hochhausarchitekturen ersetzt (zum Beispiel Abriss und Neubau des Hansaviertels in Berlin 1957; der nahezu völlige Abriss der gesamten Innenstadt war geplant). Von Mietshäusern und Einzelvillen wurden oftmals die Außenstuckelemente abgeschlagen (Entstuckung) und die Fassaden stattdessen glatt oder rauh verputzt beziehungsweise mit Gelbklinker verkleidet.

Ende der 60er Jahre entwickelte sich jedoch zunehmende Kritik an derartigen „Sanierungen“, am Funktionalismus allgemein wie auch an der offensichtlichen Unwirtlichkeit des modernen Nachkriegsstädtebaues. Zu Beginn der 70er Jahre wurde daher der weitere Abriss der Gründerzeitarchitektur gestoppt. Viele dieser Bauten wurden unter Denkmalschutz gestellt und man ging zur behutsameren Sanierung der noch verbliebenen Bausubstanz über. Seitdem wird die städtische Gründerzeitarchitektur in ihrer Urbanität vom wohlhabenden Bürgertum als besonderes begehrte Wohnform wiederentdeckt und hat inzwischen dazu geführt, dass die in den 50er bis 70er Jahren errichteten Wohnblocks und Trabantenstädte zu Quartieren der ärmeren Bevölkerungsschichten wurden. Gründerzeitviertel stehen heute in aller Regel großflächig unter Denkmalschutz und erzielen die höchsten Wohnungs- und Mietpreise.

Auch städtebaulich werden die Relationen der damals geschaffenen Stadtteile wieder als humaner und angenehmer empfunden. Die Relation von Gebäudehöhe zur Straßenbreite, die Ornamentik sowie das Vorhandensein von Mischgebieten (Wohnen und Gewerbe) und Ladenflächen tragen dazu bei.

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